010108 FS Philosophie des Lebens: Henri Bergson und Ortega y Gasset (2023W)

Henri Bergson und Ortega y Gasset sind die bedeutendsten Vertreter der Lebensphilosophie im frühen 20. Jahrhundert. Beide Denker vollziehen mit Nietzsche eine radikale Aufwertung der Welt des Werdens und ersetzen Kants transzendentales Subjekt durch die Idee eines leiblich verfassten und soziohistorisch situierten Subjekts. Über Nietzsche und Darwin hinausgehend deutet Bergson das Leben als schöpferische Macht (élan vital). Mit der Existenzphilosophie beharren jedoch Bergson und Ortega y Gasset auf der Innenperspektive menschlichen Lebens, die sich der Methodik der Naturwissenschaften entzieht. Zugleich wenden sie sich jedoch gegen irrationalistische Tendenzen, die die Lebensphilosophie seit Nietzsche begleiten. Bergson setzt sich intensiv mit der wissenschaftlichen Biologie seiner Zeit auseinander. Ortega y Gasset versucht hingegen Kants Rationalitätstheorie in die Lebensphilosophie zu integrieren. Um der Geschichtlichkeit menschlichen Lebens gerecht zu werden, vertieft Ortega y Gasset sein frühes Konzept einer „vitalen Vernunft“ durch die Idee einer „narrativen Vernunft“. Sowohl Bergson und als auch Ortega y Gasset haben im Ausgang von ihrer Philosophie des Lebens jeweils bedeutende Beiträge zur politischen Philosophie, insbesondere zum Ersten Weltkrieg und zum Aufstieg des Faschismus, und zur Kultur- und Religionsphilosophie vorgelegt. Bergson und Ortega y Gasset haben zahlreiche Philosophien in und außerhalb Europas, insbesondere die Phänomenologie, den Existenzialismus und die Kritische Theorie inspiriert. Die lateinamerikanische Philosophie des 20. Jahrhunderts verdankt wesentliche Impulse dem Denken von Ortega y Gasset.
In diesem Seminar werden zentrale Themen von Bergson und Ortega y Gasset durch eine Lektüre ausgewählter Texte behandelt.