100098 PS Neuere dt. Lit: Der Genderdiskurs um 1900 (2006W)

Ziel der Lehreranstaltung ist es, die literarischen Ausformungen des historischen Genderdiskurses in Österreich-Ungarn um 1900 zu erfassen. Dabei steht nicht nur die inhaltliche Ausdifferenzierung der Standpunkte im Zentrum des Interesses, auch der Zusammenhang zwischen den literarischen und theoretischen Texten und den unterschiedlichen Lagern der historischen Frauenbewegung soll (auch im internationalen Kontext) herausgearbeitet werden.
Als Einführung in die Thematik werden durch die gemeinsame Lektüre und Diskussion theoretischer Texte die wichtigsten Aspekte des Genderdiskurses herausgearbeitet: die rechtliche, soziale, berufliche und ökonomische Gleichstellung der Geschlechter, insbesondere das Wahl- und Eherecht, Heiratsusancen (Liebes- vs. Versorgungsehe), Erziehungsfragen, Bildungsmöglichkeiten, der weibliche Kulturbegriff, die Prostitutionsdebatte etc. Die Bandbreite der Argumente, die von Einflüssen biologistischer bzw. psychophysischer bis zu in Ansätzen dekonstruktivistischer Theoremen zeugt, soll in dieser Phase erörtert werden. Als Textgrundlage dient ein Reader mit Texten von Sigmund Freud, Rosa Mayreder, Grete Meisel-Hess, Georg Simmel, Irma von Troll-Borostyáni und Otto Weininger, der die weiblichen und männlichen Geschlechter-Theorien miteinander konfrontiert. Einen Schwerpunkt bildet hier die parodierende Entgegnung von Meisel-Hess (Weiberhaß und Weiberverachtung, 1904) auf Otto Weiningers viel diskutiertes Buch (Geschlecht und Charakter, 1903). Auch soll die Rolle von Frauen im Kontext des Nationalismus, des Antisemitismus und des Pazifismus, ihre Instrumentalisierung für männliche politische Anliegen bzw. deren Unterminierung beleuchtet werden. Als weitere Hilfestellung für die Erarbeitung des Themas werden ausgewählte rezente Darstellungen des historischen Genderdiskurses und der Frauenbewegung(en) herangezogen.
In einem zweiten Schritt werden literarische Texte inhaltlich im Gender-Diskurs kontextualisiert und in Referaten hinsichtlich ihrer Bedeutung im öffentlichen wie medialen Diksurs sowie ihrer intertextuellen Bezüge analysiert und diskutiert. Das literarische Feld in Wien um 1900, dem kulturellen Zentrum Österreich-Ungarns, ist besonders dicht vernetzt, was zur intensiven wechselseitigen Rezeption und in der Folge zu einem großen Ausmaß an Intertextualität führt. Der Reflexion der Medialität soll durch den Fokus auf die für jenen Zeitraum besonders charakteristischen Textsorten wie Tagebuch-, Brief- und Fortsetzungsroman, Parodien und offene Briefwechsel ebenso Rechnung getragen werden wie den autobiografischen Darstellungen. Dabei soll die Wahl der Textsorte kritisch in bezug auf etwaige Auswirkungen auf die inhaltliche Aussage beleuchtet werden. Als ein Beispiel wäre hier der so genannte Vera-Skandal, ein Literaturskandal rund um einen Tagebuchroman (Vera, d.i. Betty Kris: Eine für Viele, 1902), zu nennen, der die Problematik der vorehelichen Sexualität aufgreift und in einem Jahr acht literarische Parodien und Entgegnungen provoziert. Solche und andere Textbeispiele mögen die Virulenz des Genderdiskurses um 1900 und die damals herrschende Meinungsvielfalt unter Beweis stellen, die den Frauenbewegungen des 20. und 21. Jahrhunderts wertvolle Vorarbeit geleistet hat.
Die Ergebnisse der Analyse werden in einer schriftlichen Arbeit gesichert.

Die Beurteilung erfolgt auf der Basis der Referate (Kurzreferat über einen theoretischen Text, Referat à 20-30 Minuten zum Thema), Bibliografie (Abgabe Mitte des Semsters), pünktliche Abgabe der schriftlichen Arbeit (ca. 20 Seiten Umfang) und der mündlichen Mitarbeit während des Semesters.

Abgabefrist der Arbeit: 30. Juni 2007.
Abgabe im Sekretariat Petra Zehetbauer (Ankündigung per e-Mail)