170612 SE MA (G) 2.2. "Gegenwart von Geschichte" (2014S)

Obwohl Ludwig Anzengruber in einer Chronologie des 'Volksstücks' (Haida/Aust/Hein) immer noch eine wichtige Rolle attestiert wird, ist der Theaterschriftsteller und Literat der liberalen Ära Österreichs in den letzten Jahrzehnten beinahe gänzlich aus dem Gewissen der Fachöffentlichkeit verschwunden. Anzengruber gilt gemeinhin als der 'Erneurer' eines ernsteren Volksstücktypus, der allmählich einen gesellschaftskritischen Realitätsbezug aufweist und mit den Gattungen der Posse und der Operette konkurriert. Nicht zuletzt den Vertretern des Naturalismus galten die realistischen Stücke Anzengrubers später als richtungsweisend, was Alfred Döblin vom "Naturalisten vor dem Naturalismus" sprechen ließ und dem Dramatiker kurz vor seinem Tod nochmals Genugtuung verschaffte. Auch wenn Anzengruber innerhalb der Literatur- und Theatergeschichtsschreibung immer noch als Repräsentant einer liberalen, antiklerikalen und volksnahen Literatur angesehen wird, zählen seine Werke mittlerweile nicht mehr zum 'Literaturkanon', der an Schulen und Universitäten gelehrt wird. Stand die Denkmalerrichtung zu seinen Ehren 1905 bereits im Zeichen der Funktionalisierung einer emanzipatorischen 'Volksbewegung' und der literarischen Eigenständigkeit Deutsch-Österreichs, so hat das Anzengruber-Jubiläum 1989 kaum Spuren hinterlassen. Die Lehrveranstaltung will sich darum bemühen, das dramatische Werk Anzengrubers wiederzuentdecken und es in den Kontext des unerforschten Wiener Vorstadttheaters nach Johann Nestroy zu rücken. Ein weiterer zentraler Aspekt stellen die Verfilmungen seiner Werke im 20. (bzw. 21.) Jahrhundert dar, die die Anzengruber-Rezeption bis heute mitgeprägt und somit ihren Teil dazu beigetragen haben, dass seine Stücke heute eher mit missglückten Heimatfilmen in Bezug gesetzt werden.