Universität Wien
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240087 SE FM1 - Forschungsseminar - Forschungsdesign (2019W)

Dekoloniale Stadterkundungen als Methoden und Vermittlungspraxis. Methoden in Bewegung im Machtraum Wien

Prüfungsimmanente Lehrveranstaltung

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Details

max. 20 Teilnehmer*innen
Sprache: Deutsch

Lehrende

Termine (iCal) - nächster Termin ist mit N markiert

  • Mittwoch 09.10. 09:00 - 12:00 Seminarraum SG2 Internationale Entwicklung, Sensengasse 3, Bauteil 1
  • Mittwoch 23.10. 09:00 - 12:00 Seminarraum SG2 Internationale Entwicklung, Sensengasse 3, Bauteil 1
  • Mittwoch 06.11. 09:00 - 12:00 Seminarraum SG2 Internationale Entwicklung, Sensengasse 3, Bauteil 1
  • Mittwoch 20.11. 09:00 - 12:00 Seminarraum SG2 Internationale Entwicklung, Sensengasse 3, Bauteil 1
  • Mittwoch 04.12. 09:00 - 12:00 Seminarraum SG2 Internationale Entwicklung, Sensengasse 3, Bauteil 1
  • Mittwoch 08.01. 09:00 - 12:00 Seminarraum SG2 Internationale Entwicklung, Sensengasse 3, Bauteil 1
  • Mittwoch 22.01. 09:00 - 12:00 Seminarraum SG2 Internationale Entwicklung, Sensengasse 3, Bauteil 1

Information

Ziele, Inhalte und Methode der Lehrveranstaltung

Innerhalb der letzten Jahre findet eine wachsende akademische Auseinandersetzung mit der Problematik der Dekolonisierung von Methoden bzw. Universitäten statt (Denzin/Lincoln/Smith 2008; Chilisea 2012; Decolonialty Europe 2013; Mbembe 2016; Santos 2016). In diesem Prozess wird die Universität als gesellschaftlicher Ort epistemischer Machtverhältnisse einer Kritik unterzogen, die sich auf die historischen Strukturen kolonialer Gewalt und die damit zusammenhängende Hierarchisierung und Exklusion von Wissen bezieht (Quijano 2000; Quijano 2007; Santos 2007; Grosfoguel 2015)

Nicht nur die Universitäten, sondern soziale Räume insgesamt sind von kolonialen Strukturen, rassistischen, klassenspezifischen, geschlechtsspezifischen, heteronormativen, epistemischen und anderen Herrschaftsverhältnissen konstituiert – und von den Widerständen gegen sie. Auch der soziale Raum der Stadt, den auch wir als Forscher*innen und Studierende an Universitäten in Wien alltäglich erfahren und herstellen, ist ein solcher Machtraum. Er ist geprägt durch sich überlagernde zeitliche Strukturen und Praktiken der Verfolgung, der Exklusion, der Ausbeutung und der Kämpfe dagegen. Er ist geprägt durch asymmetrische, hierarchische räumliche Praktiken, in denen bestimmte Gruppen privilegiert und handlungs- bzw. bewegungsfähig gemacht werden und andere gehemmt und ausgeschlossen werden.

Diese kolonialen Räume, Zeiten und sozialen Praktiken in Wien können nur durch eine dekoloniale Methodenpraxis identifizierbar und sichtbar gemacht werden. Dazu ist es notwendig, dass sich die Forscher*innen und ihre Körper selbst -in einer dekolonial reflektierten Beziehung zu ihrem Forschungsthema, ihrer Fragestellung, ihren Forschungspartner*innen- in die sozialen, räumlichen und zeitlichen Kontexte dieses Machtraums begeben, dass sie mobil werden und sich aus den Hörsälen herausbewegen. Wir wollen in diesem Zusammenhang mit den Teilnehmenden in einem gemeinsamen Prozess eine dekoloniale methodische Praxis entwickeln, die wir als dekoloniale Stadterkundung bezeichnen und die sich auf räumliche und zeitliche Bewegungen durch den urbanen Raum Wiens bezieht. Das betrifft sowohl die analytische Dimension (als kritische Bewegung in den Archiven, in der historisch gebauten Infrastruktur und ihren Macht- und Befreiungsverhältnissen, in den marginalisierten Zonen der Ausgeschlossenen, an den historischen Orten der Verfolgung und der Widerstände dagegen bzw. in den kolonialen Praktiken und Strukturen der Repäsentation, Markierung, Deportation etc.), als auch die Dimension einer angemessenen Vermittlung, einer Sichtbarmachung dessen, was in der hegemonialen und privilegierten Bewegung im städtischen Alltag unsichtbar und verworfen ist. Eine Stadterkundung bezieht sich auf diese beide Dimensionen: Auf die Herstellung von analytischen Einsichten und Beziehungen zu unterdrückten Wissens- und Bewegungsformen und auf die performative Praxis, konkrete Orte und Stationen im urbanen Raum als Orte der Macht, Unterdrückung und des Widerstands in die Zone der Sichtbarkeit zu holen, sie zu resignifizieren, ihren historischen Kontext klarzumachen bzw. die verändernde Kraft, die aus ihren sozialräumlichen Praktiken erwächst, zu stärken und sich mit dieser zu verbinden. Diese Sichtbarmachung historischer und gegenwärtiger Machtverhältnisse in Form von Rundgängen oder Routen durch die Stadt bezieht sich nicht bloß auf die Teilnehmer*innen bzw. Forscher*innen selbst, sondern auch auf die Interaktion mit anderen Menschen in diesen Alltagskontexten (Partizipierende an diesen Rundgängen, aber auch einfache Passant*innen), die zur Irritation, zum Nachdenken, zur Reflexion provoziert werden sollen.

Dekoloniale Stadterkundungen eignen sich die Praxis von Stadtführungen oder Stadtspaziergängen auf eine kritisch-befreiende Weise an, sie bewegen sich an der bzw. überschreiten die Schnittstelle zwischen wissenschaftlicher Praxis, künstlerisch-performativer Praxis und politischer Aktion und Intervention.

Art der Leistungskontrolle und erlaubte Hilfsmittel

Zentral ist der gemeinsame Reflexions- und Diskussionsprozess im Plenum des Seminars sowie in den Gruppen von 3-4 Personen, in denen die Teilnehmenden zusammen arbeiten werden. Das Ziel ist es, dass jede dieser Gruppen im Laufe der zwei Semester eine Station einer gemeinsamen dekolonialen Stadterkundung erarbeitet, sowohl was die analytische Erforschung der konkreten historischen, räumlichen und gegenwärtigen sozialen Kontexte als auch was die performative und küstlerische Umsetzung dieses dekolonial verstandenen Prozesses der Lernens und Ver-Lernens betrifft. Dabei gehen wir von einem methodischen und performativen Pluralismus aus. Aus diesen Stationen soll schließlich eine dekoloniale Stadterkundung entstehen, die wir im zweiten Semester in die Praxis umsetzen. Ein zweiter (möglicher) Aspekt dieser performativen Praxis besteht in Form eines critical mapping, in der die sozialen Räume der Stadterkungungen aufgezeichnet und in Form einer Online-Kartographie nach dem Vorbild von "Berlin postkolonial", "München postkolonial" etc. sichtbar und ansteuerbar gemacht werden können.

Die Aufgaben der Teilnehmenden bestehen dabei aus folgenden Aspekten:

(1) die Erstellung eines in der Gruppe erarbeiteten dekolonial und transdisziplinär orientierten Forschungskonzepts im Hinblick auf eine thematische Station einer im FOSE organisierten Stadterkundung (am Ende des WS 2019/20)
(2) Das Führen eines individuellen Forschungstagebuchs (laufend, in beiden Semestern), das zu zwei oder drei Abgabezeitpunkten im Semester abgegeben werden kann und kritische Gedanken und Reflexionen zur Seminarlektüre, zur eigenen Forschungspraxis, zur eigenen Positionierung etc. enthalten soll
(3) die selbstorganisierte Planung und Durchführung einer Stadterkundung in mehreren Stationen, wobei eine Gruppe jeweils an einer Station (oder gegenbenfalls an mehreren zusammenhängenden Stationen, wenn das sinnvoll und machbar erscheint) arbeitet (Realisierung im SoSe 2020).

Dieses FOSE versteht sich insgesamt als ein möglicher Anstoss für de- bzw. postkoloniale Geschichts- und Gegenwartsarbeit im lokalen Machtraum Wien, die koloniale und anti-koloniale Bezugspunkte aufzeigt und dekolonisierende Praktiken stärkt. Dieser gemeinsame Prozess geht im besten Fall in Form des Engagements der Teilnehmenden auch über das FOSE hinaus und soll langfristig in einem noch gemeinsam festzulegenden Rahmen verankert werden.

Mindestanforderungen und Beurteilungsmaßstab

Prüfungsstoff

Mögliche sozialräumliche und thematische Kontexte, zu denen gearbeitet werden kann, sind folgende (selbstverständlich können auch die Teilnehmenden selbst aus ihren thematischen Interessen, aktivistischen Zusammenhängen etc. solche Forschungskontexte vorgeschlagen):

1. Historische Strukturen der Kolonialität, Voyeurismus und Kontinuitäten kolonialer Diskurse
• Das sogenannte „Aschanti-Dorf“ als Beispiel kolonial-rassistischer Menschenschauen im Wiener Tiergarten

2. Kollektives Gedächtnis und urbane Infrastruktur: Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit kolonialer Geschichtsbezüge
• Das sogenannte „N*-dörfl“: Ein Gemeindebau an der Vorortelinie

3. Komplexe und artikulierte Herrschaftsverhältnisse in der Wiener Sozialgeschichte: Klasse, Rassismen, Geschlecht
• Die Lage der böhmischen Ziegelarbeiter*innen am Wienerberg als soziale Klasse aber auch als rassistisch diskriminierte Gruppe. Die vergessene Dimension von Ausbeutung
• Klassenspezifische Ausbeutung und Geschlecht: Der Streik der Textilarbeiter*innen in Wien

4. Historische und gegenwärtige Strukturen und Infrastrukturen binnenkolonialer Repression und Gewalt
• Lokalgeschichte der Deportationspraktiken: Der sogenannter „Temeliner Schub“ am Donaukanal
• Lokalgeschichte der Deportationspraktiken: Das Polizeianhaltezentrum in der Rossau

5. Gedächtnisorte, Geschichtspolitik und der Kampf gegen das Vergessen und die Ignoranz: Schnittpunkte von Rassismus, Antisemitismus und Verfolgung
• Ort oder Nicht-Ort? Erinnerungspolitik am Morzinplatz

6. Rassismus, anti-rassistische Kämpfe und soziale Bewegungen in Wien
• Das Omofuma-Denkmal als Bezugspunkt anti-rassistischer Kämpfe
• Die U6-Stationen als sekurisierte Räume rassistischer Polizeipraktiken

Literatur

1. EINFÜHRUNG
Lugones, María (2003): Pilgrimages/Peregrinajes: Theorizing Coalition Against Multiple Oppressions. Lanham
Zwischenraum Kollektiv (2017): Decolonize the City! Zur Kolonialität der Stadt – Gespräche Aushandlungen Perspektiven. Münster
Kilomba, Grada (2016): Plantation Memories: Episodes of Everyday Racism. Münster
Steyerl, Hito/Gutiérrez Rodriguez, Encarnación (2012): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik. Münster
Tupoka, Ogette (2019): exit RACISM: rassismuskritisch denken lernen. Münster
2. THEORIEN
Aigner, Heidrun/Kumnig, Sarah (Hg. 2018): Stadt für Alle! Analysen und Aneignungen. Wien
El Tayeb, Fatima (2016): Undeutsch: Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft. Bielefeld
Harney, Stefano/Moten, Fred (2013): The Undercommons. Fugitive Planning & Black Study. New York
Grosfoguel, Ramón (2015): Epistemic Racism/Sexism, Westernized Universities and the Four Genocides/Epistemicides of the Long Sixteenth Century. In: Araújo, Marta/Rodríguez Maeso, Silvia (Hg.): Eurocentrism, Racism and Knowledge. London, 23-46
Qujiano, Aníbal (2000): Coloniality of Power and Eurocentrism in Latin America. In: International Sociology, 15(2), 215-232
Quijano, Aníbal (2007): Coloniality and Modernity/Rationality. In: Cultural Studies, 21(2-3), 168-178
Sullivan, Shannon/Tuana, Nancy (2007): Race and Epistemologies of Ignorance. New York
3. METHODEN
Allgemeines/Dekoloniale Forschungsparadigmen
Chilisea, Bagele (2012): Indigenous Research Methodologies. Los Angeles
Collins, Patricia Hill (2000): Black Feminist Epistemology. In: dies.: Black Feminist Thought. Knowledge, Consciousness and the Politics of Empowerment. New York/London, 251-271
Decoloniality Europe (2013): Charter of Decolonial Research Ethics. https://decolonialityeurope.wixsite.com/decoloniality/charter-of-decolonial-research-ethics
Denzin, Norman K./Lincoln, Yvonna S./Smith, Linda Tuhiwai (2008): Handbook of Critical and Indigenous Methodologies. Los Angeles
Haraway, Donna (1988): Situated Knowledge: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective. In: Feminist Studies 14(3), 575-599
Kaltmeier, Olaf/Berkin, Sarah Corona (2012): Methoden dekolonialisieren: Eine Werkzeugkiste zur Demokratisierung der Sozial- und Kulturwissenschaften. Münster
Klapeer, Christine (2014): Intersektionalität statt ein verlegenes et cetera. Methodologische Impulse zum Umgang mit der Verwobenheit von ungleichheitsgenerierenden Kategorien. In: Dannecker, Petra/Englert, Birgit (eds.): Qualitative Methoden in der Entwicklungsforschung. Wien, 55-74
Precarias a la deriva (2011): „Was ist dein Streik?“ Militante Streifzüge durch die Kreisläufe der Prekarität. Mit Einem Anhang von Marta Malo de Molina. Wien/Berlin
Mbembe, Achille Joseph (2016): Decolonizing the university: New directions. In: Arts & Humanities in Higher Education 51(1), 29-45
Santos, Boaventura de Sousa (2007): Beyond Abyssal Thinking. From Global Lines to Ecologies of Knowledges. In: Review XXX(1), 45-89
Santos, Boaventura de Sousa (2016): Epistemologies of the South and the future. In: From the European South 1, 17-29.
Smith, Linda Tuhiwei (2008) [1999]: Decolonizing Methodologies. Research and Indigenous Peoples. London/New York
Suárez-Krabbe, Julia (2012): ‘Epistemic Coyotismo’, Transnational Collaboration and Interculturality. Decolonizing the Danish University. In: Human Architecture: Journal of the Sociology of Self-Knowledge 10 (1), 31-44
Critical Mapping
Huggan, Graham (1989): Decolonizing the Map: Post-Colonialism, Post-Structuralism and the Cartographic Connection. In: Ariel 20 (4), 115-131
Kitchin, Rob/Dodge, Martin (2007): Rethinking maps. In: Progress in Human Geography 31 (3), 331-344
kollektiv orangotango+ (2019): This is not an Atlas. Bielefeld
Lynch, Kevin (1990): The Image of the City. Cambridge
München postkolonial: http://muc.postkolonial.net/

Für weitere Literatur siehe die englische Version

Zuordnung im Vorlesungsverzeichnis

Letzte Änderung: Mo 07.09.2020 15:21